Quelle: organpromotion.de
Seit 2012 veranstalte ich regelmäßig Kulturprojekte mit russischen jungen Musiker in Russland und in Deutschland. Die Projekte stehen immer auch in einer Verbindung zur Orgel und zur Orgelmusik und des kulturellen Austauschs und der Völkerverständigung. Nach einer Projektwoche mit Bildungsangeboten, Kursen und Proben folgt dann zumeist ein abschließendes öffentliches Konzert. Die Projekte wurden bislang zum Teil durch private Gönner und durch Sponsoren aus der Wirtschaft finanziert. Gerade weil die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zur Zeit nicht gerade zum Besten stehen, ist es wichtig, den Austausch und die kulturelle Kommunikation zu pflegen. Im Frühjahr 2014 organisierte zum Beispiel Michael Grüber, Geschäftsführer vom Organpromotion und ich eine Orgelreise durch Süddeutschland mit Orgelstudenten und Orgelstudentinnen des Moskauer Tschaikovsky - Konservatoriums, bei welcher zahlreiche berühmte Süddeutsche Barockorgeln von den Teilnehmern gespielt und besichtigt werden konnten. Das letzte Projekt - eine Probewoche mit einem russischen Blechbläserensemble und der russischen Organistin Yulia Draginda fand im November 2015 statt. Da die beim Abschlusskonzert zur Aufführung gelangten Transkriptionen von mir stammten, hatte ich die Möglichkeit, mit dem Ensemble 5 Tage in Moskau am Konservatorium zu arbeiten. Diese Probewoche mit abschließendem Konzert in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Moskau am 7.11. 2015 war bei ca. 800 Zuhörern ein großer Erfolg. Ich habe dieses Projekt in einem Reise - und Konzertbericht detailliert dokumentiert und freue mich über das Interesse der Leser an unserer musikalischen Arbeit.
Meine Reise nach Russland begann mit dem Nachtzug von Mannheim nach Berlin. Am 3. November kam ich morgens am neuen Berliner Hauptbahnhof - mit seiner ausgesprochen interessanten modernen Architektur an. Es war bestes Reisewetter mit herbstlichmildem Sonnenschein. Von Berlin ging es mit dem Europa-Express nach Warschau und dort musste ich in den Nachtzug nach Moskau umsteigen. In Polen kann man erst bei den Anzeigetafeln am Bahnhof selbst erfahren, auf welchem Gleis der nächste Zug abfährt, und mit viel Gepäck ist das Umsteigen dadurch nicht gerade einfach. Zum Glück gab es andere Reisende, die ebenfalls nach Russland wollten und die wussten, auf welchem Gleis der nächste Zug abfährt. Nach einigen Stunden Zugfahrt erreichten wir dann Brest, die Grenzstadt zu Belorussia. Dort gab es umfangreiche Grenzkontrollen, die länger als eine Stunde dauerten, alle Koffer und Taschen wurden geöffnet und durchsucht. Irgendein Dokument fehlte mir, aber glücklicherweise gab es freundliche Menschen aus Minsk im Zug, die für mich dieses Dokument ausfüllten. Dann wurden die Räder des Zuges in einer großen Werkhalle ausgewechselt, damit sie für die größeren russischen Gleise geeignet sind. Der ganze Zug wurde auf Hebebühnen nach oben gezogen und der neue Untersatz unter die Waggons montiert - wobei alle Reisende im Zug bleiben mussten - ein Abenteuer. Endlich ging die Fahrt weiter durch die Nacht nach Minsk, der Hauptstadt von Belorussia. Da es dunkel war, sah man vom Land selbst leider nur wenig - aber an den Bahnhöfen hatte man das Gefühl, in eine andere Epoche versetzt zu sein, wie als wäre die Zeit stillgestanden und nichts veränderte sich mehr. Eine Art gefrorene Zeit. Die Menschen dort sind aber sehr freundlich, jedoch ernst und sie lachen wenig. Eine ganz andere, dunklere Atmosphäre als zuvor in Deutschland oder Polen. Nachdem wir Minsk verlassen hatten, ging es weiter über Smolensk und am nächsten Morgen, dem 4. November, kam ich im schönen Belorusskaja Woksal in Moskau an, ein Gebäude im frühen Jugendstil. Dort wurde ich vom Organisator unseres Projekts, Herrn Semjonov, persönlich abgeholt und mit dem Auto in mein Hotel, ganz in der Nähe des Tschaikovsky Konservatoriums im Zentrum Moskaus gebracht. Der Straßenverkehr in Russland ist natürlich etwas anders als bei uns in Deutschland. Ich durfte ein elegantes Zimmer mit separater Küche in einem historischen Gebäude kostenlos bewohnen. Von dort war man in nur 10 Minuten am Kreml - und zu vielen anderen interessanten historischen Orten und Museen der russischen Geschichte war es auch nicht weit.
Am nächsten Morgen, am 5. November, begannen schon die Proben zum Konzert in der Lutherischen Kirche mit dem Blechbläserquintett, welches aus Mitgliedern des Orchesters „Nowaja Rossija“ (Neues Russland) bestand und der russischen Organistin Yulia Draginda. Zuerst mussten alle Werke im Ensemble erarbeitet werden, denn das musikalische Programm war sehr anspruchsvoll. Leider konnte der Paukist nicht zur Probe kommen, da er an diesem Morgen ein anderes Engagement hatte. Die Musiker in Moskau können es sich nicht leisten, eine bezahlte Arbeit nur wegen einer Probe abzulehnen, wenn sie finanziell überleben wollen. Es ist dort normal, dass professionelle Musiker am Tag zwei oder drei verschiedene Konzerte und dazu noch eine oder zwei Proben zu anderen Projekten haben. Auch die Bläser hatten an diesem Tag später noch andere Dienste und am Abend trafen sie sich nochmals zu einer Probe für unser Projekt im Konservatorium. Diese Probe am Abend hörte aber nach einem solch langen Arbeitstag nicht etwa um 22.00 Uhr auf, nein, es war schon nach 23.00 Uhr und sie probten immer noch mit einem Enthusiasmus, den wir in Deutschland so fast nicht mehr kennen. Am Tag vor unserem Konzert hatten die Bläser Verdi zu spielen und auch am Konzerttag selbst hatten sie zuvor noch andere Aufführungen.
Mit dem Paukisten musste nun zu einem anderen Zeitpunkt alleine mit der Orgel und mit Hilfe der Partitur geprobt werden, damit er seine Einsätze, die Tempi und schwierigen Übergänge kennenlernen konnte. Erst am Konzert selbst spielte das ganze Ensemble dann zum ersten Mal vollständig zusammen. In Deutschland wäre dies undenkbar - und die Musiker bei uns hätten auch nicht die Nerven dazu. Oft ist es in Russland aber so: man plant etwas, aber alle wissen, dass es am nächsten Tag ohnehin ganz anders kommt und irgendetwas nicht nach Plan läuft. Niemand regt sich dann darüber auf und es wird schnell und flexibel irgendeine andere Lösung gefunden. Die Menschen müssen von Tag zu Tag improvisieren, das ist dort ganz normal. Das Erstaunliche ist aber, dass am Ende zumeist das Resultat dann doch immer wieder stimmt, nur dass es auf eine ganz andere Art erreicht wurde, als wie man es zuvor geplant oder vorgesehen hatte. Bei uns in Deutschland plant man alles bis ins kleinste Detail und wenn es gut geht, dann ist alles in Ordnung. Kommt aber etwas Unerwartetes dazwischen, weiß niemand, was man nun machen soll und alle sind ratlos. In Russland erwartet niemand, dass etwas nach Plan läuft und die Menschen müssen immer wieder neue Wege finden.Am Nachmittag des 5. November durfte ich dann einen Meisterkurs im Konservatorium über historische Aufführungspraxis und Continuo halten, zu dem zahlreiche Studentinnen und Studenten - aber auch Professoren kamen. Wir behandelten die Geschichte des europäischen Generalbassspiels von 1600 bis 1800 und verglichen die Stile der verschiedenen Länder miteinander, wobei die Studenten auch Gelegenheit hatten, Beispiele aus vielen historischen Quellen selbst praktisch auszuprobieren und eine Bachkantate zu erarbeiten. Am Abend dann ein kleiner Spaziergang durch die Stadt.
Am folgenden Tag, dem 6. November, wurde unser Kurs fortgesetzt und ich war erstaunt, mit wie viel Interesse und Disziplin in Moskau am Konservatorium gearbeitet wird. An diesem Freitag waren aber keine Proben mehr mit dem Ensemble vorgesehen, da die Musiker - wie schon erwähnt – für andere Projekte engagiert waren und zudem können Bläser nicht unendlich lange spielen, da sie auf ihren Ansatz achten müssen. Das Quintett traf sich aber am Abend des nächsten Tages nochmals zu einer zusätzlichen Probe vor dem Konzert. Am Konzerttag, dem 7. November, fand am Vormittag auch die Probe mit Pauke und Orgel in der Kirche statt. Zum gleichen Zeitpunkt wollte aber auch ein Konzertorganist aus Frankreich üben, der am gleichen Abend vor unserem Konzert sein Konzert dort hatte. Dass zwei oder drei Konzerte kurz hintereinander stattfinden - wie in einem Kino - ist dort ganz normal. Es kann um 18:00 Uhr ein Chor mit Orchester auftreten, dann um 19:30 Uhr ein Orgelkonzert stattfinden und danach vielleicht ein Streichquartett in der Kirche konzertieren. Das Publikum zu unserem Konzert wartete auch schon im Vorraum, während innen noch das Orgelkonzert des französischen Organisten stattfand. Als die eine Gruppe dann hinein wollte, wollten die anderen hinaus und in diesem Gedränge mussten die Musiker sich ihren Weg zur Empore bahnen. Und als noch nicht einmal alle Musiker an ihren Plätzen waren, wurde schon das erste Stück unten in der Kirche angekündigt. Das Konzert begann mit den festlichen Klängen von Eugene Gigouts Grand Dialog in einer Fassung für Blechbläserquintett, Orgel und Pauken. Ein komplexes Werk, welches mit einem Frage - und Antwortspiel zwischen Bläsern und Orgel beginnt und im Mittelteil polyphon in der Art einer Fuge gestaltet ist, die zu einer glanzvollen Steigerung am Ende der Komposition führt.
Das Zusammenspiel zwischen Orgel und Bläsern war sehr differenziert und rhythmisch prägnant ausgearbeitet und die oft anspruchsvollen harmonischen Verläufe von den Musikern ausgesprochen klar nachgezeichnet. Danach interpretierte das Ensemble das bekannte Adagio op. 11 für Streicher des amerikanischen Komponisten Barber in einer Fassung für Orgel und Blechbläserquintett. Die oft lang und intensiv ausgehaltenen Töne und die fast kirchliche Stimmung der Komposition, eigneten sich hier bestens für diese Besetzung. Durch die musikalisch überzeugende Interpretation des Ensembles, welches die oft großen und langen musikalischen Spannungsbögen und die an alte Musik angelehnte Polyphonie plastisch verdeutlichte, verlor das Werk nichts an Ausdruckskraft gegenüber dem Original. Die folgende Bearbeitung von Bachs Eingangschor aus der Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ in einer Fassung für Orgel solo von Franz Liszt, wurde von Yulia Draginda – einer Meisterschülerin von Professor Alexey Semjonov – in einem der grossen Akustik des Raums entsprechenden ruhigen Tempo vorgetragen, und die Themeneinsätze des fugierten Mittelteils wurden für den Hörer musikalisch sauber herausgehoben. Die Organistin zeigte hier in einnehmender Weise, wie der Romantiker Liszt, Bach verstanden hat. Nach einem Orgelstudium am Moskauer Konservatorium führten weitere Studien Draginda nach Deutschland und in die Schweiz, wo sie zahlreiche Konzerte gab. Als nächstes Werk folgte das Quintett op. 5 in B-Moll des russischen Komponisten Viktor Ewald, einem Freund und Komponistenkollegen von Rimsky - Korsakov. Hier waren die russischen Musiker natürlich ganz in ihrem Element, denn es ist sozusagen ihre musikalische Muttersprache. Auf ein Moderato, in dem die oft typisch russisch - dunklen und manchmal aufbrausenden Stimmungen überwogen, folgte ein gesangliches Adagio, welches erstaunlicherweise im 5/4 - Takt steht. Der Mittelteil dieses Adagios ist dann von Imitationen und einer etwas gespenstischen Stimmung in Moll geprägt - worauf eine Variation des ersten lyrisch - gesanglichen Themas folgt. Der letzte Satz, Allegro moderato, greift dann wieder das Hauptthema des ersten Satzes auf und endet in kraftvollem Überschwang. Schön war hier, dass das Werk in der originalen Besetzung mit Euphonium gespielt wurde - und nicht mit Posaune, wie man es bei uns oft hört. Der nächste Programmpunkt war die Passagalia für Orgel solo des Spätromantikers Josef Rheinberger. Draginda legte das lange und gewichtige Werk in einem grossen Steigerungsbogen an und führte die verschiedenen Variationen des Themas musikalisch intelligent und mit grosser Emotion vor. Das Werk endet in voller Orgel in einer fast schon an Reger gemahnenden Harmonik. Bei der folgenden Aria aus der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach in einer Fassung für Bläserquintett, brillierte vor allem der erste Trompeter, Leonin Gurev, der den virtuosen Part der Solovioline in weicher Tongebung auf dem Flügelhorn spielte. Dass man in Russland an Bachs Musik zuweilen ganz anders und unbefangener herangeht, als bei uns in Deutschland, hatte hier etwas Erfrischendes. Den Höhepunkt des Konzertes bildete Rimsky- Korsakovs Festouvertüre „ Swetly Prasdnik“ (Helles Fest) in einer Fassung für Blechbläserquintett, Pauken und konzertante Orgel. Das Werk mit einer Dauer von fast 20 Minuten, stellt die Geheimnisse der Osternacht und des Osterfestes des russisch-orthodoxen Gottesdienstes musikalisch dar. Die lange und mystische Einleitung mündet in ein Allegro agitato, in welchem geradezu tanzartige Rhythmen überwiegen. Im Recit Majestoso wurde das Solo von Fjodor Lawrenov sehr ausdrucksvoll und tiefgründig auf dem Bariton gespielt, worauf der festliche Schlussteil folgte, der, wie alle Teile des Werkes, Themen des orthodoxen Gottesdienstes musikalisch höchst kunstvoll verarbeitet. Die langen und anspruchsvollen Partien wurden von den Bläsern hervorragend und glasklar artikuliert und dynamisch abgestuft; der zuweilen hochvirtuose Orgelpart von der Organistin mit großer Leichtigkeit an der historischen Sauer Orgel gemeistert. Mit glanzvollen Akkorden in Dur endete das Werk in österlichem Jubel. Langer und begeisterter Applaus nach jedem Stück - und am Ende applaudierte das sehr zahlreiche Publikum sogar im Stehen.
Ein mit Sicherheit eindrucksvolles und aussergewöhnliches Konzert in der russische Hauptstadt Moskau. Zum Schluss hielt Herr Semjonov eine Dankrede und ich verwies auf die deutsch - russische Freundschaft zwischen den beiden Ländern, die durch dieses Konzert zum Ausdruck kam - was beim Publikum mit grossem Beifall versehen wurde. Danach wurde mit den Musikern natürlich gefeiert. Da es Wochenende war, war die Stadt voll von Leben und die Bars und Cafés waren besonders von jungen Leuten besucht. Überhaupt fällt auf, dass es in Russland überall junge Leute und Kinder gibt und auch im Konzert waren sehr viele junge Leute - überall erlebt man eine große Vitalität und Lebendigkeit auf den Straßen und in der Stadt. Ich bin sehr dankbar für die 6 eindrucksvollen Tage, die ich in Moskau als Gast verbringen durfte. Es waren unvergessliche Momente und Eindrücke, die ich nach Deutschland mitgenommen habe. Ebenso dankbar bin ich für die gute und freundschaftliche Zusammenarbeit mit meinen russischen Kollegen in Moskau. Dieses Projekt ist ein gutes Zeichen für die russisch – deutsche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Musik und der Wissenschaft und es zeigt, wie wichtig der Austausch zwischen beiden Ländern ist. Krisen und Missverständnisse beginnen immer nur dort, wo es zwischen zwei Ländern keine Kommunikation und keinen lebendigen Austausch mehr gibt - und diese Kommunikation muss gefördert werden und kann nur zwischen Menschen in gemeinsam realisierten Projekten stattfinden. Natürlich brauchen diese Projekte, wenn sie professionell durchgeführt werden sollen, auch Geld - und wir sind für eine finanzielle Unterstützung unserer weiteren Arbeit durch die deutsche Politik sehr dankbar. Über Jahrhunderte hindurch waren Russland und Deutschland immer in engem Austausch auf allen Gebieten, besonders aber in der Kultur. Weder Deutschland noch Russland kann ohne diese über sehr lange Zeit historisch gewachsene Freundschaft glücklich sein. Immer nur für kurze Zeit waren diese Verbindungen durch Irrwege und Ideologien unterbrochen - und es waren immer nur ungebildete Leute oder Psychopathen, welche versucht haben diese gegenseitige Verbundenheit zu zerstören.Musik ist die Sprache, welche Menschen, Völker und Kulturen verbindet, und aus diesen Grund haben wir auch ein Programm mit Komponisten aus verschiedenen Ländern zusammengestellt – besonders aber mit russischen und deutschen Kompositionen. Mein Freund und Kollege, Alexey Semjonov, und ich haben zusammen dieses Projekt organisiert und realisiert und wir bedanken uns bei den Musikern für ihren tatkräftigen Einsatz für diese farbige, kraftvolle aber zuweilen auch tiefgründige Musik. Für eine ideelle und finanzielle Unterstützung weiterer Projekte dieser Art und einer Wiederholung dieses Programms an einem anderen Ort in Russland, wären wir sehr dankbar.
Eberhard Klotz, 10. November 2015