Die Stuttgarter Gemeinde wächst
Der nun eintretende Winter war diesmal für uns in Stuttgart nicht so öde wie zuvor. Von der Zeit an, als wir vorübergehend in Baden-Baden Gottesdienste hielten, entdeckten unsere Landsleute plötzlich Stuttgart, und sie kamen von da an mit jedem Jahr öfters auf Winterferien zu uns. Sie brachten bald in Erfahrung, dass es in Stuttgart ausgezeichnete Schulen gab, und einige Familien siedelten sich hier sogar zur Erziehung ihrer Kinder an; es wurde auch ein Internat für russische Knaben eröffnet, wo sich in einem Winter 12 Jungen einfanden. In der Folge begann man auch, die Mädchen im hiesigen Katharinen-Institut unterzubringen, das noch von der Königin Katharina Pawlowna für die höhere Töchterbildung gegründet worden war. Außerdem tauchten unsere Russen in Cannstatt, das in einer Entfernung von fünf Minuten per Eisenbahn von Stuttgart liegt, in verschiedenen der sich dort befindenden Heilanstalten auf, so z.B. in der bekannten orthopädischen Klinik des Dr. Heine, wo einstmals der Herzog von Leuchtenberg, Nikolaj Maximilianowitsch, in Behandlung war; weiterhin in der Hautklinik des Dr. Feile und in der Heilanstalt für seelische Krankheiten, wo auch einige unserer Landsleute waren, und schließlich in der Erziehungsanstalt Klose, durch die nicht wenige unserer russischen Jugendlichen gegangen waren. Mit einem Wort Stuttgart lebte plötzlich auf, und für mich begann an diesem Ort die seelsorgerische Tätigkeit, hauptsächlich mit den Religionsstunden, aber auch mit Russischunterricht, da ich zu jener Zeit ganz allein und ohne Gehilfen war und dabei nur wenig gebildete Psalmenleser hatte. Das war auch einer der Gründe, der mich dazu veranlasst hatte, um die Ersetzung der alten Küster durch junge, möglichst akademisch gebildete Leute zu ersuchen. Und tatsächlich, als anstelle der Psalmenleser studierte Theologen bei mir ihren Dienst antraten, fanden sie hier eine große Beschäftigungsmöglichkeit in der Vorbereitung der jungen Leute zum Eintritt ins Gymnasium und sogar in die Universität. Zu dieser Belebung des russischen Geistes in Stuttgart kam noch die Erneuerung unserer Botschaft im russischen Geiste hinzu. V.P. Titow, der schon zuvor Gesandter bei uns gewesen war, kehrte nach zweijährigem Dienst bei dem verstorbenen Thronfolger Nikolaj Alexandrowitsch wieder auf seinen Gesandtenposten zu uns zurück, und das Gesandtschaftsgebäude in Stuttgart wurde wieder ein russisches Haus, in dem unsere Landsleute einen herzlichen Empfang fanden.
Doch während ich mich auf den Winter 1858/59 einrichtete und mit der Zunahme an pastoraler Tätigkeit in Stuttgart selbst zufrieden war, warb man in Petersburg stark um mich, und mir hätte beinahe eine Veränderung meines Lebens mit dem Wechsel auf eine Stelle in Russland bevorgestanden. Zunächst wollte mich meine Hochwohlgeborene Schülerin, die Großfürstin Olga Feodorowna, als Geistlichen bei sich behalten, doch danach folgte ein viel ernsthafterer Vorschlag seitens der Kaiserin Maria Alexandrowna, die mich als Gehilfen von Bazanow bei ihren Kindern haben wollte. Im Brief der Kaiserin, den mir die Großfürstin Olga Nikolajewna mitteilte, drückte sich ihre Hoheit in dieser Hinsicht folgendermaßen aus: “Sprechen wir nun von einer Angelegenheit, die meinem Herzen genauso nahe liegt, wie dir. Ich suche einen Priester für meine beiden jüngsten Söhne. Du kannst erraten, an wen ich denke. Bist du bereit, uns Bazarow zu opfern? Erstens erwarten wir von ihm, dass er sich den Kindern so widmet, wie sich der Priester von Maria Nikolajewna seinen Zöglingen widmete (gemeint ist I.V. Roshdestwenskij). Er soll ein geistlicher Vater sein, Lehrer, Freund, Kamerad und – vor allem ein Führer und Ratgeber für seine Zöglinge. Mit einem Wort, er soll entgegenkommend sein, aber stets fest und kein Fanatiker; er soll ganz im Leben der Kinder aufgehen, ein unumgängliches Element davon werden, nur an den Nutzen der Kirche und das Heil der Kinder denken, nicht aber an die Meinung der Welt. Wenn er all das nach Kräften sein will und kann, so nehmen wir ihn mit offenen Armen auf, doch wenn in seine Seele auch nur der geringste Tropfen von Protestantismus eingedrungen ist, so werden wir einander nicht verstehen. Mir liegt die Frage des Unterrichts, den Bazanov leider vernachlässigt, sehr am Herzen, doch da noch Zeit ist, kann sich Bazarow darauf vorbereiten und die jetzigen Anforderungen ins Auge fassen ... Wenn es sich einrichten lässt, hätte ich ihn gern in diesem Sommer oder spätestens Herbst. Ich habe Bazanow noch nichts gesagt, da ich auf Antwort warte. Ich nehme an, dass er selbst versteht, dass er nicht genügend Zeit dafür hat. Im Sommer und im Herbst wird der Unterricht der Kinder oft unterbrochen. Basarow müsste mit uns wohnen. Ich weiß, meine Liebe, dass ich ein großes Opfer von dir fordere! Bevor du mit ihm sprichst, beschreibe mir bitte seinen Charakter, wie du ihn verstehst. Ist er nicht zu nachsichtig?”
Als Antwort auf diesen Brief sagte ich meiner Großfürstin, dass sie für ihre Kinder einen zweiten Roshdestwenskij sucht, aber außer ihm keinen solchen finden wird. Indessen begann die Entschlossenheit der Großfürstin, mich für die Kaiserin zu opfern, ins Wanken zu geraten. Besonders war ihr Gatte dagegen, damals noch Kronprinz.
“Das ist eine Schande für Russland, – sagte er mir –, dass man dort keinen Religionslehrer für die Kinder des Herrschers finden kann und der Großfürstin ihren geistlichen Vater entziehen muss, an den sie gewöhnt ist”.
Schließlich gelangten wir zur folgenden Entscheidung: Wenn ich dort gebraucht würde, damit der Thronfolger seine Bildung abschließen könnte, so wäre die Großfürstin Olga Nikolajewna bereit, ihren geistlichen Vater für diese wichtige Tätigkeit zu opfern. Und in diesem Sinn wurde der Kaiserin eine deutliche Antwort gegeben.
Im Frühling dieses Jahres machte die Großfürstin Maria Nikolajewna auf der Rückreise von Italien nach Russland in Stuttgart Station. Da sie mir immer geneigt war, wandte ich mich um Rat an sie, wie ich mich in diesem Falle verhalten sollte. Mir fiel es schwer, die Großfürstin Olga Nikolajewna zu verlassen, die von der Möglichkeit, ihren geistlichen Vater zu verlieren und ihn durch irgend jemand anderen zu ersetzen, sehr besorgt und sogar betrübt war, andererseits aber, sagte mir mein Gewissen, dass ich mich einer neuen und dabei so wichtigen Verpflichtung nicht entziehen dürfte. Die Großfürstin Maria Nikolajewna betrachtete diese Angelegenheit von der praktischen Seite und sagte mir unter anderem: “Es tut mir leid um Sie, wenn Sie an den Großen Hof gehen. Sie werden dort ganz verdorben!”
“Weshalb denn, Eure Hoheit?”
“Ja deshalb, weil es dort zu viele Intrigen gibt. Und Sie selbst werden nicht bemerken, wie Sie in dieses trübe Wasser gezogen werden, oder, wenn Sie sich dafür als ungeeignet erweisen, werden Sie selbst zum Opfer einer Intrige. Deshalb mein Rat: Nehmen Sie diese Stelle nicht sofort an, sondern fahren Sie erst zur Probe. Gefällt es Ihnen dort, so bleiben Sie mit Gottes Hilfe, gefällt es Ihnen nicht, so kehren Sie zurück, worüber sich Olga Nikolajewna sehr freuen wird”.
Und wie dankbar war ich in der Folge für diesen guten Rat der Großfürstin. Doch vorläufig blieb diese Angelegenheit offen, und ich dachte schon, dass sie ganz ins Wasser gefallen war, umsomehr, als ich überzeugt war, dass der Passendste und Wünschenswerteste für diesen Platz doch I.V. Roshdestwenskij war. Allerdings wollte die Großfürstin Maria Nikolajewna sich nicht von ihm trennen, sondern ihn bei ihren Kindern behalten, und die Kaiserin selbst fand ihn etwas trocken und streng klerikal, doch dafür hatte er alle Erzieher der Großfürsten auf seiner Seite, die ihn liebten und ehrten wie ihren Nächsten, beinahe wie ein Familienmitglied. Roshdestwenskij hatte eine besondere Fähigkeit, mit allen Spaß zu treiben, ohne auch nur im geringsten seine Würde zu erniedrigen, sondern im Gegenteil nahm er manchmal plötzlich einen doktoralen Ton an, wobei er sich nicht scheute, scharfe Worte zu benutzen, was ihm gerne verziehen wurde, besonders von den Hofdamen. Zu all dem fühlte ich mich völlig untauglich. Ich erinnere mich, wie sogar V.B. Bazanow sich über diese Fähigkeit Roshdestwenskijs wunderte, mit den Herrschaften vom Hof zu spaßen.
“Er geht sogar, – sagte Bazanow –, zu den Hofdamen und verbringt mit ihnen die Abende, während ich nicht einmal weiß, wo sie da im Winterpalais wohnen”.